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1. Einleitung

Utopien sind ein wesentliches Element in gesellschaftlichen Transformationsprozessen und sie tragen selber historischen Charakter. Ein utopisches Bewußtsein, das sich diesen Einsichten stellt, ist keineswegs dazu verdammt, die Anerkennung dessen was ist an die Stelle der Auseinandersetzung dessen was sein soll zu setzen, weil sich der historische und begrenzte Charakter von Utopien schon so oft entlarvt hat. Ein wissenschaftlicher oder pragmatischer Standpunkt, der Utopien von Weltverbesserern ablehnt und die Maßstäbe des Handelns alleine aus dem gewinnt was ist, begrenzt sich genauso, ist genauso ideologisch wie die ahistorische Utopie. In der Utopie geht Wissenschaft in Kunst über: die Auseinandersetzung mit dem was ist, gibt dem gestaltenden Bewußtsein von dem, was nun möglich geworden ist, eine völlig neue Basis. Und der Skandal, daß wir es im Lichte dieser Möglichkeiten nicht weiter gebracht haben, wird doppelt fühlbar. [/chunk1]

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Die Utopie, mit der ich sie in diesem Vortrag konfrontieren möchte, entnimmt ihre sämtlichen Bausteine der heutigen Wirklichkeit: einer Wirklichkeit, die uns vor 20 Jahren als Utopie vorgekommen wäre: die mit vielen neuen, phantastischen Elementen angereichert ist, die an Erfindungen und technischem Reichtum, an Kommunikationsmitteln und an Wissen jede vorhergehende historische Epoche haushoch übertrifft. Eine Wirklichkeit jedoch, die uns gleichzeitig zum Gefängnis geworden ist, so total, daß wir nicht mehr wissen wohin wir fliehen könnten.

Noch vor einer historischen Sekunde schien diese Wirklichkeit zu triumphieren, selbst die Utopie zu sein, die mehr als jede andere die Menschen in ihren Bann zu schlagen vermochte. 1989 sprach der amerikanische Autor Fukuyama vom Ende der Geschichte und meinte damit die Obsoletheit der Utopien in der wahrgemachten Gesellschaft von Demokratie und Marktwirtschaft. Er meinte damit auch, daß Demokratie und Marktwirtschaft selbst die Utopie schlechthin wären, der beste mögliche zu erreichende gesellschaftliche Zustand, der wie von selbst auflösend auf alle anderen geschichtsmächtigen Gegenentwürfe wirken würde.

Mittlerweile wissen wir es besser, wir erleben einen ungeahnten Entfesselungsprozeß zerstörerischer Potenzen, dessen Ende wir noch nicht absehen können. Auf einer Veranstaltung wie dieser haben wir die Chance, diese zerstörerischen Potenzen zu hinterfragen, wir haben aber uns primär die Aufgabe zu stellen, die historischen Errungenschaften und Entfaltungsprozesse aufzubewahren und in Konturen neuer Bilder gesellschaftlicher Gestaltung hineinzudenken, hinter denen auch Interessen, Subjekte und geschichtsmächtige Bewegungen stehen können. [/chunk2]

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Was ich Ihnen heute Abend vorschlage, wie skizzenhaft auch immer, ist eine Utopie jenseits von Demokratie und Marktwirtschaft, die aber ein zentrales Motiv und eine zentrale Stärke dieser bislang letzten erfolgreichen Utopie aufbewahrt: den Wunsch der Menschen zu verkörpern, ihr Leben autonom und nach eigener Vorstellung zu gestalten, ohne Gängelung, Propaganda und Lüge. Die Behauptung ist, daß es dazu bessere Mittel gibt als Stadt, Eigenheim und Auto, bessere Mittel als Geld, Privateigentum und Markt, sogar bessere Mittel als Staat, Recht und Gesetz. Die Behauptung ist, daß die Elemente dieser Utopie einer menschlichen Selbstentfaltung in freier Kooperation bereits existieren, zum Teil als wiederentdeckte bzw. wieder aktualisierte Bestandteile alter Kulturen, zum Teil als technische und soziale Innovationen, hervorgebracht durch die globale Marktwirtschaft, in der sie gleichzeitig strukturell neue und zunehmend unverträgliche Elemente darstellen. Bildlich gesprochen haben wir es mit Keimformen von etwas Neuem zu tun, das sich innerhalb der Nischen der alten Gesellschaft entwickelt und entwickeln können muß, genauso wie sich in Oberitalien und Flandern seinerzeit die Gesellschaftsform namens Kapitalismus entwickelt hat, in der wir heute leben. [/chunk3]

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Es ist daher eigentlich verkehrt, von "Utopie" zu sprechen, im Sinn einer völlig anderen Welt, die bloß am Reißbrett des Visionärs existiert. Vielleicht sollte man bei dem, was ich Ihnen darstellen möchte, besser von einer "Syntopie" sprechen, vom Zusammenkommen mehrerer Bausteine, die durchaus schon existieren - von Bausteinen aber, die sich auf neue und unkonventionelle Art zusammenfügen, die in sich scheinbare Gegensätze vereinigen und zugleich auf eine neue Art aufheben, die einander gerade in dieser Gegensätzlichkeit und in diesem Spannungsfeld benötigen, um wirklich Bausteine einer tragfähigen und einladenden menschlichen Behausung zu werden.

Das Wort "Syntopie" hat aber auch den Sinn, von dem ich eingangs gesprochen habe, den Fehler aller Utopien zu vermeiden, den Menschen in seiner unglaublichen Vielfalt auf ein Baumuster, auf einen Entwurf reduzieren zu wollen. Nur eine Utopie, die dem unglaublichen Spannungsbogen menschlicher Lebensentwürfe, Orientierungen und Werthaltungen, die uns in dieser historischen Epoche in ihrer Vielzahl und Unterschiedlichkeit bewußt geworden sind, die dieser bunten Fülle eine Heimstatt und Manifestation bieten kann, ohne daß dies das menschliche Zusammenleben in tiefe Konflikte und unaufhebbare Widersprüche stürzt, nur eine solche Utopie hat heutzutage noch diesen Namen verdient. [/chunk4]

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2. Die Selbstaufhebung der Marktwirtschaft: Von wo wollen wir weg?

Der kanadische Medienphilosoph Marshall McLuhan ist es, von dem ich mir den Terminus "Globale Dörfer" geliehen habe, der dann doch im Plural etwas ganz anderes bedeutet als bei seinem Urheber im Singular. Weniger bekannt als diese Wort - Ikone ist, daß McLuhan in seiner "Theorie der Medien" auch eine Geschichtstheorie entworfen hat, die in ihrer vierwertigen Dialektik vielleicht ein reicheres Verstehen unserer Welt erlaubt als die dreiwertige Fortschrittsideologie des historischen Materialismus. Bei McLuhan entspringen wie bei den Geschichtsdialektikern historische Änderungen und Umschläge dem Umstand, daß eine historische Epoche mit ihren Charakteristika selber die Welt so lange verändert, bis aus dem einstmals revolutionärem Prinzip selbst der Umschlag in etwas Neues erfolgt. Quer zu diesem Ausdehnungs- und Umschlagprozeß liegt aber eine Dialektik von Verdrängung und Aktualisierung. Immer wieder läßt ein historischer Fortschritt einerseits viele Qualitäten in Vergessenheit geraten, andererseits werden ebensoviele Dinge wieder auf die Tagesordnung gesetzt, die in der vergangenen Epoche verdrängt worden waren. Diese "Tetrade" benutzt McLuhan als Grundmuster zur Konstruktion seiner Theorie der Medien, aber immer wieder wird sie ihm spielerisch zur Weltformel. [/chunk5]

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Unsere historische Epoche, die sich nun vielleicht einem Ende zuneigt, hat vielleicht formell mit dem Westfälischen Frieden von 1648 begonnen, die den modernen Territorialstaat und die Souveränität begründete. Am Anfang dieser Epoche, gut 200 Jahre früher, standen revolutionäre Neuerungen in der Kriegstechnik, das Schießpulver und die stehenden Armeen. Zur selben Zeit schrieben die großen Utopisten ihre Visionen. Der Wettlauf in der Kriegstechnik führte zu den großen staatlichen Gebilden, zum stehenden Heer, zum Bedarf an Finanzen, zum Kampf um den Reichtum der Nationen und um die Aufteilung der Welt. Die Einführung des Kapitalismus war eine "Revolution von oben", an die Stelle der alten Naturalabgaben trat die monetäre Besteuerung. Die Menschen wurden gezwungen, "Geld zu verdienen", um ihre Steuern an den Staat bezahlen zu können. Städte und große Industrien sind das Resultat dieses Prozesses, in dem zunehmend die ganze Welt in einen Markt verwandelt wurde. War bis dahin Produktion vorwiegend handwerklich und dezentral, lagen Produktion und Konsum nahe beieinander, waren die Menschen in großen Familienverbänden und buntscheckigen lokalen Gemeinschaften organisiert, so wurden sie nun in Systeme der Massenproduktion integriert. Standardisierung, Spezialisierung, Synchronisation und Hierarchie waren die Begleiterscheinungen. Die großen Bewegungen der Moderne wetteiferten darin; und scheinbare Opponenten wie Faschismus und Realsozialismus waren Nachzügler, die in nationalen Kraftanstrengungen die Resultate der Staatenkonkurrenz zu korrigieren trachteten. [/chunk6]

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Ich erzähle ihnen das alles, um sie darauf aufmerksam zu machen wie kurz eigentlich die Geschichte unserer Epoche ist. In ihrem Verlauf hat sie die Welt gründlich verändert, mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Städten und Stadtregionen, das ist auf nur 2% der verfügbaren Landfläche. Immer schärfer wird der Wettbewerb zwischen den Produzenten, den sie nur durch Vergrößerung ihrer Absatzmärkte bestehen können - ein prekäres Karussell, das sich immer schneller dreht und das auf der einen Seite zu immer kapitalintensiveren Zentren, auf der anderen Seite zu enormen Problemen für die "Peripherien" führt. Denn die Anforderungen an die Industriestandorte, die globale Märkte bedienen sollen, werden immer höher. Um konkurrenzfähig und kostengünstig produzieren zu können, ist nicht nur eine lokale "Wissensbasis" für die beständige Innovation der Produktion erforderlich, sondern auch ein kompliziertes Zusammenspiel verschiedenster wirtschaftlicher Dienstleistungen, die natürlich "just in time" verfügbar sein müssen - von den Arbeitskräften bis zu den Zulieferen.

Als Konsequenz dieser "Globalisierung" ensteht ein zunehmendes demographisches und ökonomisches Ungleichgewicht. Die existierenden Metropolen und Megazentren ziehen immer mehr wirtschaftliche Aktivitäten an sich, ihre Wirtschaftskraft wächst beständig - wobei diese freilich zu einem großen Teil durch die steigenden Anforderungen an ihre Konkurrenzfähigkeit aufgezehrt wird. Auf der anderen Seite stehen veritable Verliererregionen, deren Wirtschaftskraft relativ oder absolut sinkt. [/chunk7]

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Es scheint eine absolute Schranke unseres Wirtschaftssystems zu geben, die trotz enormer Steigerung der Reichtumsproduktion ein immer größeres Gefälle zwischen arm und reich produziert, die Menschen der Quellen ihres Erwerbes beraubt und letztlich den Funktionsmechanismus des Marktes selbst außer Kraft setzt. Empirisch nachgewiesen wurde das Sinken des Indikators für nachhaltige ökonomische Wohlfahrt ISEW in allen Industrieländern seit dem Ende der achtziger Jahre.

Es ist weniger bekannt, daß Norbert Wiener (1894 - 1964), der Vater und bedeutendste Vertreter der Kybernetik, diesen Mechanismus schon bald nach dem Ende des 2. Weltkrieges voraussah. Als Henry Ford seinerzeit mit dem Fließband und der systematischen Verdichtung des Produktionsprozesses die Möglichkeiten der Elektrizität in die zweite industrielle Revolution umsetzte, war dies der eigentliche Auftakt der modernen Massenbeschäftigung, wenngleich auch unterbrochen durch die Weltwirtschaftskrise. Niemand machte sich ernsthaft die Sorge, daß durch all die Rationalisierung die menschliche Arbeitskraft aus der Produktion verdrängt werden könnte, gab es doch ständig neu entstehende Sparten der Produktion. Wiener hingegen schrieb schon 1947, daß die Fortsetzung der industriellen Revolution in völlig andere Richtungen verlaufen würde: [/chunk8]

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Die automatische Fabrik und das Fließband ohne menschliche Bedienung sind nur so weit von uns entfernt, wie unser Wille fehlt, ein ebenso großes Maß von Anstrengung in ihre Konstruktion zu setzen wie z.B. in die Entwicklung der Radartechnik. (Kybernetik, p.59)

Wiener sah in dieser Revolution, die durch Elektronik und Informationswissenschaften vorangetrieben wurde, keineswegs nur eine positive Perspektive, vielmehr eine "Entwertung des menschlichen Gehirnes" mit schwerwiegenden Konsequenzen auf die Lebenslage der Bevölkerung. Er warnte davor, weiterhin dieselben wirtschaftlichen Maßstäbe anzulegen:

Es kann nicht gut sein, diese neuen Kräfteverhältnisse in den Begriffen des Marktes abzuschätzen, des Geldes, das sie verdienen. Wenn man sich diese Revolution abgeschlossen denkt, hat das durchschnittliche menschliche Wesen mit mittelmäßigen oder noch geringeren Kenntnissen nichts zu verkaufen, was für irgendjemanden das Geld wert wäre. Die Antwort ist natürlich, daß wir eine Gesellschaft haben müssen, die auf menschliche Werte gegründet ist und nicht auf Kaufen und Verkaufen. (ebenda, 59ff)

Doch es dauerte volle 30 Jahre, bis Wieners Voraussage als "Dritte Industrielle Revolution" Realität wurde und vielleicht noch länger, bis sie auch in ihren Konsequenzen verstanden und schmerzlich erlebt wurde. [/chunk9]

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Der Wettbewerb um die Verbilligung der Produkte und die Intensivierung des Produktionsprozesses hat sich der mikroelektronischen Revolution bedient und zugleich mithilfe der modernen Kommunikationstechnologien eine globale Gesamtfabrik geschaffen, in der riesige betriebswirtschaftliche Aggregate miteinander wetteifern; Ob bestimmte Fertigungskomponenten im Allgäu oder in Algerien, in South Carolina oder Seoul produziert werden, richtet sich bekanntlich nicht danach, ob diese in der betreffenden Region benötigt werden, ob es ökologisch sinnvoll ist, sie zehntausende von Kilometern an ih­ren Bestimmungsort transportieren, dafür ganze Landschaften mit Betonpisten zuzupflastern und Tonnen von Rohöl zu verpulvern, sondern ist einzig und allein eine Frage des betrieblichen Rentabilitätskalküls. (Norbert Trenkle) Unter den Bedingungen des Ware-Geld-Systems werden die Potentiale der neuen Technologien gerade nicht dafür einge­setzt, die überregionalen stofflichen Verflechtungen zu entzerren, sondern vielmehr um in Form des eines globalen Outsourcing und der Externalisierung von Folgekosten die Zentralisierung der planetaren Arbeitsmaschine weiter voranzutreiben. So wuchern die infrastrukturell wie sozial hoffnungslos überla­steten urbanen Megazentren weiter, während ein zunehmend größerer Teil der Welt zum bloßen Hinterland degradiert wird, dessen Bewohner von Konsum und von sozialstaatlichen Leistungen zunehemend entkoppelt werden und bloß die negativen Folgen der Universalisierung des Geldes in Form von Umweltkatastrophen, Hunger und Krieg zu spüren bekommen. Weil aber durch all diese Entwicklungen in der Produktivkraft mit ständiger Verbilligung und Vermassung der Produkte die Sphäre der materiellen Produktion als Geschäftsmittel zunehmend entwertet wird, entdeckt das mit seinen Verwertungsbedingungen unzufriedene Kapital die Sphäre des Wissens und der Kultur als Anlagesphären. Aus frei verfügbarem Wissen wird "Geistiges Eigentum". Die Marktwirtschaft wird, um überleben zu können, feudal, überläßt "outsourcend" die Produktion zunehmend anderen, um von Informationsrenten zu leben: das Wissen der Toningenieure über Klänge, Raumwinkel und Volumina verschwindet in einem Programm, das die akustische Erfahrung von Generationen entwertet. Architekten brauchen keine Raumfantasie mehr, wenn sie ihre Skizzen im dreidimensionalen Video betreten können. Mit diagnostischen Expertensystemen wird der Arzt zum Knopfdrücker. Wissen, das an Erfahrung und deshalb an Personen gebunden war, wird nun zu Kapital. Die Spezialitäten wandern in die digitalen Kästen, die Spezialisten verlieren, wie vor ihnen die Handarbeiter, an Marktmacht. Denn die Software, die ihre Erfahrung aufsaugt, die ist nun das "geistige Eigentum" der Digitalisierer und derer, die das Programm kaufen..... (Matthias Greffrath) [/chunk10]

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Die Freiheit des Geldverdienens und des Kapitalwachstums ist im Begriff, zu einer absoluten Schranke der menschlichen Kreativität und Weiterentwicklung zu werden, gerade weil sie im Wachstumszwang beginnt, ihre essentiellsten Produktivkräfte zu vernichten: die Freiheit der Wissenschaft und der Kultur, den freien Austausch der Ideen. Das ist die Zeit und das ist die Bedingung, in der wieder Utopien blühen müssen, in der sich der Geist und die menschliche Vorstellungskraft aus den Fesseln alter Vergesellschaftungsformen herauszuarbeiten beginnen. Aber diese Utopien blühen auf dem Bodensatz völlig neuer, von dieser Produktionsweise hervorgebrachter Bedingungen. 3. Elemente des Neuen: womit können wir arbeiten

Die oben entwickelte globalisierte Wirtschaft ist es, die uns paradoxerweise auch immer mehr Mittel in die Hand gibt, einen selbstverantwortlichen und selbstorganisierten Lebensraum zu gestalten. Die Informationsgesellschaft und ihre auf Mikroelektronik basierende Technologie ist sowohl in der Richtung der extremen Arbeitsteilung als auch in der Richtung der Reintegration von Arbeitsvorgängen grundsätzlich offen. Sie kann eine von Roboterhänden gesteuerte Fabrik, menschenleere Produktionsstraßen mit gewaltigem stofflichem Input an Ressourcen und Energien und Output an Produkten und Abfall schaffen - sie kann aber genauso im Prinzip die bisher getrennten Arbeitsvorgänge wieder integrieren und schafft so die Möglichkeit der dezentralisierten Hausarbeit, des "ganzen Hauses" der traditionalen Gesellschaften in neuer Form. [/chunk11]

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Marshall McLuhan hat diese Möglichkeiten sogar als "Stufenfolge der elektrischen Medien" beschrieben. Nach der zentralisierenden Industrialisierung, die den Menschen dem "Maschinenrhythmus" fixer Arbeitszeiten und spezialisierter Tätigkeiten, dem Terror der großen Städte und der großen Institutionen unterworfen hat, folgt die dezentralisierende Automatisierung. Während es, so McLuhan, der Industrialisierung und ihren Fabriken komplett egal war ob die "große Arbeitsmaschine" Cornflakes oder Cadillacs ausstieß, kehrt der mikroelektronische Produktionsvorgang zunehmend genau dorthin zurück, wo das Produkt benötigt wird, in die Lebenswelt, zum Kunden. Für den automatisierten Produktionsvorgang, getrieben vom Medium der Elektrizität - das Information und Energie in einem ist - wird es wieder wichtig, wo und wie er stattfindet. Automaten sind nicht festgelegt, was sie produzieren, sie reagieren auf ihre Umwelt. Die Automation ist organischer Natur und ein flexibler, informationsgetriebener Vorgang. Prozesse finden gleichzeitig statt, es gibt keine Linearität mehr, stattdessen Kreisläufe. Die Maschinen schrumpfen, sie passen sich dem Benutzer und ihrer Umgebung an, sie sind aber miteinander und mit dem Benutzer ständig in einem Netzwerk des Informationsaustausches verbunden. Dieses Netzwerk vereinigt als universales Werkzeug die unterschiedlichsten Inhalte und verlagert die materielle Produktion endgültig an die Peripheriegeräte. Ist "Welt" einmal digitalisiert und modellhaft erfaßt und entworfen, läßt sie sich von unterschiedlichsten Autoren bearbeiten und verschicken, um sich irgendwo zu materialisieren, am Drucker, am Plotter, am Fabber. Damit aber tritt eine enorme Beschleunigung ein, aus Raumgenossen werden wir zu Zeitgenossen, und positive und negative Wirkungen verbreiten sich mit Lichtgeschwindigkeit. [/chunk12]

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McLuhan, dessen Aktualität offensichtlich noch lange nicht erschöpft ist, gebrauchte bei der Beschreibung der langfristigen Folgen der "ersten globalen Renaissance", die wir gerade durchleben, einen eigenartigen Begriff: er sprach, im Gegensatz zu den kolonialistischen Expansionen der letzten Renaissance - den "großen Explosionen" - von der "großen Implosion". Nicht im expansiven Überschreiten von Grenzen, von Weltraum und Tiefsee liegt der wahre utopische Gehalt des angehäuften Potentials der neuen menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten, sondern im Gestalten nach Innen, in unseren Lebensraum hinein. Dieser Lebensraum ist mehr denn je Resultat unserer bewußten Wahrnehmung von Möglichkeiten, unserer Fähigkeit die Dinge wieder zueinander in bezug zu setzen, zusammenzusetzen. Diese Wahrnehmung kann aber nun kombiniert werden mit der Verfügbarkeit globaler Kanäle zu Wissen, Diensten, Informationen und Werkzeugen, die uns von allen Seiten aufgedrängt werden von längst schon redundanten Anbietern, die um einen immer kleiner werdenden Kuchen von Zahlungsfähigkeit Gefechte von enormen Dimensionen veranstalten. Könnte es sein, daß wir, anstatt uns an diesen historisch obsoleten, sinnlos-teuren Standortgefechten zu beteiligen, zunehmend Lebensräume gestalten werden und wollen mit dem vordringlichen Ziel, die Wirtschaft nicht mehr in jeder Alltagssituation zu brauchen, sich von ihr nicht mehr stressen zu lassen? Eine erstaunliche Anzahl von Elementen und Bausteinen für eine solche autonome Gestaltung liegt bereit. Bevor wir in unsere Utopie eintauchen, möchte ich einige dieser existierenden und zugleich durchaus neuartigen Elemente benennen: [/chunk13]

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  • Die Produkte der gesellschaftlichen Produktion im Zeitalter der Mikroelektronik geben uns enorme vergegenständlichte Fähigkeiten, die wir autonom umsetzen können. Alvin Toffler hat das in seinem Buch von der Dritten Welle dargestellt, sein Beispiel eines epochalen Bruchs war der Schwangerschaftstest für Frauen. Anstatt zu einem Spezialisten gehen zu müssen, ist eine Frau nun selber fähig, sehr früh herauszufinden ob sie schwanger ist. Die Welt ist voll von Beispielen, wie dieser Bruch mit der Zentralisierung und Spezialisierung den Alltag verändert und die Fähigkeiten des Menschen erweitert. Wer hätte vor 100 Jahren für möglich gehalten, daß ich bei mir zu Hause sämtliche Orchester der Welt mit einem Plattenspieler zur Aufführung bringen kann? Wer vor 70 Jahren, daß dies mit einem Radio möglich ist? Wer hätte vor 15 Jahren gedacht, daß ich digitale Tonarchive über das Netzwerk abfragen kann? Und vor 5 Jahren, daß ich diese Archive wiederum in einer Zigarettenschachtel mit mir herumtragen und ständig erneuern kann? Die Produkte der Industrie sind selbst Automaten geworden, flexibel, reagierend auf die Wünsche des Benutzers, den sie potentiell in die Lage versetzen, sich produzierend zu verhalten, gesellschaftliche Intelligenz in seinem Alltag, in seiner Lebenswelt umzusetzen und damit diese Lebenswelt zu gestalten. Toffler nennt das den "Prosumenten", der tendenziell den passiven und von fremder Arbeitsleistung abhängigen Konsumenten ersetzt. Mikrowellenherde, programmierbare Nähmaschinen, automatische Heizung und Kühlung, autonome Rasenmäher: wir sind umgeben von Technologie, die autonom ihre Umwelt zu gestalten in der Lage ist - sofern wir die Gebrauchsanleitung verstanden haben oder uns vernetzen können mit Menschen die uns helfen. Dazu gleich mehr.
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  • Nicht nur in diesem unmittelbaren häuslichen Bereich machen sich die Veränderungen bemerkbar. In noch viel stärkerem Ausmaß verändert sich die industrielle Lebenswelt in den Städten. Die Menschen, die seinerzeit durch den gefräßigen Hunger und Arbeitskräftebedarf der großen Industrie von den Dörfern eingesaugt wurden, profitieren von der Nähe, Bequemlichkeit und Geschwindigkeit der urbanen Agglomeration. Der Prozeß der Urbanisierung geht scheinbar ungebrochen weiter, obwohl sich zeigen wird, daß er sich unter der Oberfläche schon längst umgekehrt hat. Die Metropolen und Agglomerationen haben kein Zentrum mehr, sie haben vielleicht noch einen historischen Zentrumsbezirk, in dem sich Verwaltung und Touristen breit machen. Die Stadt wird in sich dezentral. An die Stelle der Geschäfts- und Arbeitsviertel sind Einkaufszentren und suburbane Bürosilos getreten, ein Netzwerk von Verkehr und Telematik hat eine polyzentrische Urbanität hervorgebracht, es zählt die Nähe von Zugangspunkten zu diesem Netzwerk wesentlich mehr als die geographische Nähe zum Stadtzentrum. Und dieses Netzwerk, diese Logistik gleicht sich in den Städten deutlich einander an, sodaß ein Einkaufszentrum in Sigapur, Chicago oder München weder von innen noch von außen so ohne weiteres einem Ort zuzuordnen ist, ebensowenig wie die Unterhaltungskomplexe und Kinopaläste. In Wahrheit haben wir es schon längst mit einer über den Planeten verteilten globalen Metropole zu tun. Diese Wahrheit wird für die Utopie der globalen Dörfer von fundamentaler Bedeutung sein.
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  • Die steigende Größe der Städte hat es mit sich gebracht, daß der Zugriff auf natürliche Ressourcen nichts selbstverständliches mehr ist. Auch in den Städten ist ökologisches Bewußtsein eingekehrt, sind Technologien des Recycling, der Wiederaufbereitung entwickelt worden. Kreislaufwirtschaft bedarf technologischer Anstrengungen, um "missing links" zu überbrücken. Diese Anstrengungen lohnen sich aber fast unendlich, denn sie zeigen beständig die Möglichkeit an, mehr mit weniger zu tun und vorhandene Ressourcen nicht zu erschöpfen. Diese Ökologisierung der Technologie erweitert aber nicht nur die Möglichkeiten für die Städte. Neue Techniken der Gewinnung von Energie aus Biomasse und Solarstrom schaffen neue Bedingungen für das Leben in ländlichen Räumen. Aufgrund dieser gewandelten technischen Bedingungen ändert sich auch unsere Wahrnehmung: Vor Ort gewonnene Energie - umweltfreundlich und Abfall vermeidend wie Biomasse, Wind, Sonne - ist in einem riesigen Ausmaß vorhanden, falls wir diese Energie nicht für den Transport vergeuden. Jeden Tag liefert die Sonne Energie im Umfang von 50% des weltweiten Vorrates an fossilen Brennstoffen, wächst enorme Biomasse nach. Zugleich wächst unser Verständnis dafür, daß Naturprozesse enorm komplexe Kreislaufprozesse sind. Permakultur und biologischer Landbau erzielen ein breiteres Spektrum an stofflichen Umsätzen und bringen vielfältigere Rohstoffe und Elemente in die lokale Nutzung ein als jede herkömmliche Form der Agrikultur. Das Land und sein neuer potentieller Reichtum beginnt zu locken. Nicht in Gegensatz, sondern in Harmonie mit den gestiegenen technischen Möglichkeiten!
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  • Die Teilhabe am Reichtum menschlicher Information und Kultur, einst das gewichtigste Privileg der Stadt, wird durch die digitalen Netzwerke ebenfalls revolutioniert. Die neue Existenzform von Information ist an keinen materiellen Träger mehr gebunden. Kopien enthalten die totale Informationsqualität des Originals und sind doch veränderbar; aus jeder Kopie kann somit wieder ein Original werden, überall. Nicht nur die Universität kann in jedem Dorf sein, auch das Labor, die Werkstatt, das Atelier. Menschliches Lernen ist zur Quelle von Innovation geworden. McLuhan hat dies prophetisch vorausgesehen: Die Menschen werden plötzlich nomadische Informationssammler, und zwar so nomadisch wie noch nie, informiert wie noch nie, frei von hemmender Spezialisierung wie noch nie- aber auch wie noch nie in den ganzen Gesellschaftsprozeß einbezogen, da wir ja mit Elektrizität unser Zentralnervensystem weltumspannend erweitert haben und jede menschliche Erfahrung sinnvoll einordnen müssen. Sinnvolle Einordnung aber setzt wiederum den Bezug auf einen integrierenden Lebensraum voraus.
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  • Freilich kann genau dieser Lebensraum jetzt in nie gekannter Weise zum Gegenstand der Bearbeitung werden: die in Lichtgeschwindigkeit gewonnene Information muß allerdings in einem viel langsameren Prozeß auf ihre sinnvollen Bezüge zum Ganzen des Lebensraums geprüft und zumeist modifiziert und angepaßt werden. Information ist im Medium von sinnvoll auszuführenden mikrologischen Steuerungsbefehlen kodiert und kann bei Vorliegen geeigneter Maschinerie unmittelbar materiell manifestiert werden; das gilt schon für jeden Computerdrucker. Aber eine einfache Zuschneidemaschine, Brotbackmaschine, Webmaschine etc. kann diese komplexe Interaktion mit Material und Form auch inkorporieren. Freilich bedarf es dazu auch eines gestiegenen Wissens der Benutzers und der Programmierers, das nur in einer intensivierten Kommunikation zu gewinnen ist. Das Land beginnt schon wieder noch mehr zu locken, denn es liefert das materielle Substrat vieler Arbeitsprozesse, die in der Dichte der Stadt keinen Sinn machen.
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  • Eine dritte Eigenschaft der digitalen Information: sie ist telekommunizierbar, sie ist teleologischer Arbeitsgegenstand einer theoretisch unbegrenzten Anzahl von sie verfeinernden, modifizierenden, differenzierenden, systematisierenden Individuen und Gruppen, die ihre Arbeit an der Arbeit und ihren Zielen (Selbstentfaltung) unmittelbar vergesellschaften und zugleich dadurch von gesellschaftlichen Normen auch abweichen können. Der Modellfall GNU/Linux hat eindringlich gezeigt, daß weltweit zehntausende von Entwicklern an ein und demselben Universalwerkzeug arbeiten können. Die globale Metropole ist so an jedem Ort verfügbar, an dem ein zufriedenstellender Zugang zu den Informationsnetzen realisiert ist.
  • Information ist auch multimedial, das heißt das digitale Medium hebt die Beschränkungen jeder Beschreibungsform angesichts einer komplexen Wirklichkeit tendenziell auf. Die Form der Erklärung von Vorgängen kann wechseln zwischen Wort, Bild, Ton, Simulation, Film: eine ungeheure Erleichterung des Lernens gerade angesichts des oben festgehaltenen gesteigerten Wissensbedarfes.
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Die Umrisse einer Utopie sind alleine in diesen technischen Innovationen, die aber nur einen Bruchteil der Bausteine von Syntopia ausmachen, sichtbar: die syntopische Vision der Globalen Dörfer ist die Vision eines neuen Miteinanders von Stadt und Land, von Zentrum und Peripherie, aufbauend auf raumübergreifender Telekommunikation, wissensintensiven Technologien und ökologisch tragfähigem lokalem Ressourceneinsatz. Konkret geht es um das umfassende Design neuer Lebensräume, die urbane Errungenschaften mit ländlicher Lebensqualität vereinen, sich im wirtschaftlichen Geschehen nur dort betätigen, wo es Sinn macht und einen hohen Grad an kollektiver Selbstversorgung wiederherstellen: bei gleichzeitiger hochgradiger Informationsvernetzung und technisch- wissenschaftlicher Kooperation. Diese Lebensform einer "globalen Subsistenz" findet ihren Ausdruck in stetig wachsenden subsidiären Netzwerken und in einer Dominanz der zivilen Gesellschaft und ihrer Institutionen. Sie erzeugt sogar heute undenkbare Verschiedenheit der Lebensweisen, dennoch typische Muster und Standards. [/chunk20]

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Auf dieser Grundlage möchte ich versuchen, eine Utopie zu wagen, und freue mich über jeden, der dieser Gestaltung ein Element hinzufügt. Es ist auch eigentlich nicht "meine Utopie", sondern das ekklektische Resultat des Zusammentragens mehrerer Phantasiebausteine, die ich für essentielle Elemente einer syntopischen Realität halte. Schauen wir uns also solch ein "globales Dorf" konkret an, machen wir einen Besuch in der Zukunft. 4. Ein Besuch im Globalen Dorf 4.1. die Vogelperspektive und die Piazza Telematica

Wir beginnen unsere Annäherung aus der Vogelperspektive, aus der Perspektive der Architektur und der Landschaft. Ich habe ein paar Bilder aus der Zukunft mitgebracht. [/chunk21]

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Der Urheber einer ersten, großen Vogelperspektive heißt Joseph Smyth und er hat ein "vorher" und ein "nachher" gezeichnet, anhand des drastischsten Falls der Veränderung zum heutigen Status Quo. Es handelt sich um eine Satellitenaufnahme der Auto-Stadt Los Angeles aus dem Jahre 1990 und eine der Autonomen Stadtregion Los Angeles aus dem Jahr 2050. Aus der Satellitenperspektive fällt auf, daß der Grad der Versiegelung von Bodenflächen in Smyths Vision wieder umgekehrt wird. Parkplätze, Autostraßen, Einkaufszentren, wie sie die bis zum Himmel dominierend die Grundfläche der amerikanischen Autostadt charakterisieren, sind drastisch zurückgegangen: Die dominierende graubraune Stadtfarbe ist zugunsten eines Wiesengrüns und der Erkennbarkeit renaturalisierter Flußläufe zurückgedrängt. So mag das Orange County auch noch im 19. Jahrhundert vom Himmel auch ausgesehen haben. Der menschliche Siedlungsraum scheint weniger in die breite Fläche auszuwuchern, sondern er bildet Verdichtungen. Es scheint einen Grundsatz zu bilden, den Raum einer Siedlung nicht weiter auszudehnen als ein Mensch in wenigen Minuten zu Fuß bewältigen kann. Zwischen den Siedlungen, an ihren Rändern, aber auch durch sie hindurch verlaufen grüne Korridore. [/chunk22]

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Sehen wir näher hin, betrachten wir einen solchen Siedlungskern. In diesem klassischen Entwurf von Richard Rogers und Partnern für die Bitstadt in Mallorca sehen wir drei zusammengehörige globale Dörfer, die an einer Achse des öffentlichen Verkehrs gelegen sind. Zusammengenommen ergeben die drei urbanen Dörfer schon fast eine kleine Stadt, und doch ist jedes von ihnen eine kompakte Einheit, ein diversifizierter Lebensraum mit einer Mischung aus urbanen, suburbanen und ländlichen Elementen. Die Funktionen und sozialen Aktivitäten gehen graduell ineinander über. Ein öffentlicher, lebendiger, aktiver und diversifizierter Mix im Zentrum verläuft ringsumher in ein suburbanes Wohngebiet und verliert sich letztlich in ruhige Garten- und Parklandschaft, landwirtschaftliche und natürliche Zonen. Ein Globales Dorf ist offensichtlich ein vollwertiger Lebensraum, der die drei essentiellen Sphären unseres Lebens (Urban, Suburban, Rural) auf kleinstem Raum lokal zusammenschließt. [/chunk23]

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Gehen wir ins Zentrum der Bitstadt. Eine Piazza mit einem Teich, umgeben von mehrstöckigen Gebäuden, mit Cafés, Ateliers, Galerien, Hallen, Konferenzsälen und Büros. Ein verdichteter urbaner Raum, in dem sich viele Menschen aufhalten, wie im Zentrum einer mediterranen Kleinstadt oder eines griechischen Dorfes. Architektonische Maßnahmen sorgen hier für eine gleichmäßig milde Klimatisierung und für große Variabilität, ohne daß wir uns an die Sterilität eines shopping centers erinnert fühlen müssen. Eher ist diese Piazza eine große Bühne, auf der auch ständig wechselnde Stücke aufgeführt werden können. Wenn wir genauer hinschauen, dann sehen wir, daß dieser Raum der Präsenz und der Kommunikation sich dennoch in einem kleinen Detail von der Beschaulichkeit eines italienischen oder griechischen Stadt- oder Dorfplatzes platzes unterscheidet: die Präsenz ist vermischt mit Telepräsenz, wo zwei oder drei oder viele lokale Bewohner versammelt sind, ist nicht zu selten auch ein Gast oder eine Verbindung zu Versammlungen über virtuelle Präsenz zugegen. Das Dorf ist verbunden, verbunden auf vielerlei Art und Weise mit der globalen Metropole. Rings im Kreise tragen die Gebäude verschiedene Namen, haben verschiedene Funktionen, die sich auch in ihren Namen ausdrücken wie: Haus der Werkzeuge, Haus des Wissens, Haus der Gesundheit, Haus der Schönheit. Es gibt auch ein Rathaus, aber es heißt Haus der Beratung. [/chunk24]

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Globale und lokale Interaktion sind offensichtlich in vielerlei Formen verbunden: Die Bewohner der Bitstadt kommen physisch zusammen, weil und insoferne es auch ständig etwas Neues zu erfahren und zu erleben gibt. Von der Langeweile eines typischen dörflichen Tages ist keine Spur: Im Haus des Wissens ist heute besonderer Andrang, man nimmt Teil an einem Glasperlenspiel. So heißen, in Anklang an ein Buch von Hermann Hesse, die nach strengen Regeln ablaufenden multimedialen Disputationen führender Forscher und Experten, die sich einem weltweiten Millionenpublikum stellend die Kontroversen ihrer Theorien öffentlich austragen. Ganze Parteien, Gruppen, Stäbe arbeiten für diese Spiele, bei denen es keineswegs so harmonisch zugeht wie in Hesses Kastalien. Alles, was wir wissen, generiert ständig offene Fragen, ist der Leitspruch. Die vielfältigen Darstellungs- und Veranschaulichungsmöglichkeiten, die im Zeitalter des Marketing entwickelt worden waren, dienen nun dem Verständnis und Nachvollzug der hochkomplexen und schwierigen Theorien. Das Glasperlenspiel ist wie eine Schachweltmeisterschaft, wo Amateure und Semiprofis gleichermaßen begeistert mitmachen. Wissenschaftliche Ligen kümmern sich monatelang um die Einarbeitung in die komplizierte Materie. Es geht nicht unbedingt darum, sich von der Beteiligung der Menschen Aufschluß und Lösungen zu erwarten, sondern um das Gefühl, an einem Werk der kollektiven Intelligenz beteiligt zu sein. Mitunter ist es aber schon vorgekommen, daß ein entscheidender Hinweis, eine kritische Frage, ein Einwand aus einem fernen Dorf den Verlauf eines solchen Spiels beeinflußt hat. Die Grundregel des Spiels ist, daß keine Aussage komplett falsch ist, wenn sie aus reiner Intention heraus entsteht. Doch wir werden dieser Grundregel noch oft begegnen, wir können uns auch das Spiel, in dem es heute um die Regelmäßigkeiten von Primzahlen geht, nicht wirklich in seiner Tiefe anschauen. [/chunk25]

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Es dient uns ja auch nur als Beispiel für die Funktionsweise und für das Lebensgefühl im Globalen Dorf. Gleich nebenan, im Haus der Gesundheit, hat eine Mutter wesentlich trivialere Sorgen. Ihr Kind hat mehrere Fingerknöchel gebrochen, als Resultat eines Sturzes, und beide nehmen an einer Telekonferenz zwischen dem Dorfarzt und einem Spezialisten für Knochenheilung teil, der in einem weit entfernten Dorf residiert. Früher war bei solchen Fällen kein Aufhebens gemacht worden, neunziggradige oder dreißiggradige Fingerstellung bei der Vergipsung waren das Dogma des Chefs der jeweiligen Universitätsklinik gewesen, eben die lex artis. Kunstfehler sind dabei genug vorgekommen und kaschiert worden. Heute weiß man, daß kein Fall hundertprozentig wie der andere ist, und daß es die generalisierende Regel ist, die verletzt und tötet. Der Spezialist ist nicht mehr nur für die schweren Fehler und den Pfusch der Kollegen zuständig, er ist rechtzeitig telepräsent, um Fehler und ihre Konsequenzen zu verhindern.

Im Haus der Werkzeuge findet gerade eine Konferenz statt, an der einige Personen teilnehmen, die sich mit Landwirtschaft, nachwachsenden Rohstoffen, Materialveränderungen beschäftigen. Wir werden sie später noch kennenlernen und auch noch die vielen anderen Gruppen, die simultan sich der Piazza Telematica bedienen. [/chunk26]

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Doch wir wollen nicht vergessen, daß wir ja auf einem ersten Erkundungsgang sind und hier nicht hängenbleiben sollten. Also gehen wir auf dem grünen Weg ein paar Dutzend Meter weiter in die Vorstadt, nach Suburbia. Zu unserer Überraschung finden wir, daß das Leben hier keineswegs komplett ausgestorben ist. In den kleinen Seitengassen sind Läden und Werkstätten. In den oberen Geschossen, die nun zunehmend niedriger werden, sind Wohnräume, Balkone, Dachgärten. Es ist, als ob das ganze Dorf geplant wäre wie ein Hügel, um möglichst viel freie Sicht auf die umliegende Landschaft zu gewähren und zugleich das Leben im Zentrum zu schützen und zu verdichten. Schön langsam kommt auch manches Unterirdische an die Oberfläche und wir sehen, daß das Dorf tatsächlich Autos hat - kleine, elektrobetriebene Transportwägelchen, die im Zentrum in unterirdische Röhren verbannt sind, und nun, in der Fläche, in eigene offene Servicestraßen münden. Die Häuser sind so angelegt, daß sie sowohl einen Hinterausgang zu den Servicestraßen als auch einen Vordereingang zu den grünen Fußgängerwegen haben, an denen sich die Läden, Werkstätten und öffentlichen Teile der Häuser einladend aneinanderreihen. Das Dorf ist in vieler Hinsicht tatsächlich so etwas wie die Miniaturausgabe einer Stadt! Die Wägelchen sind gerade mal so groß, daß eine Person bequem darin sitzen kann, und sie bewegen sich wie von Geisterhand gesteuert durch elektronische Leitsysteme. Ihre Größe ist genormt, sie lassen sich sogar für den Überlandtransport in das große öffetliche Bahnnetz verladen und werden auf der last mile wieder autonom. [/chunk27]

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Doch auch hier halten wir uns nicht lange auf, obwohl wir natürlich bemerken, daß das Globale Dorf keineswegs eine "immobile Gesellschaft" ist, daß der Fluß von Menschen und Materialien durch die Telematik und die gestiegenen Möglichkeiten des elektronischen Zugangs keineswegs zum Versiegen bekommen ist. Er hat nur eine völlig neue Form bekommen, der gegenüber unsere Automobile wirken wie Postkutschen.

Gehen wir weiter hinaus, in den aufgelockerten, ländlichen Bezirk, der wie ein Halo unsere Bitstadt umgibt. Hier beginnt sich Architektur mit Agrikultur zu vermischen. Glashäuser und Hydrokulturen tauchen auf, lebende Maschinen, die das Sonnenlicht, die Erde und das Wasser in hunderterlei Stoffe umwandeln und den Abfall zu Erde kompostieren. Biomassekonverter erzeugen Energie und Elektrizität und natürlichen Dünger. Intensiv bewirtschaftete Permakulturen bilden einen Übergang in die sich auflockernde Parklandschaft mit ihren Schwimmteichen, Spielplätzen. Rund um das Dorf beginnen Wälder und Felder sich abzuwechseln und bilden eine grüne Lunge. Rad- und Fußwege, die sich mit den Servicewegen vereinigen, führen zu einsamen Gehöften, die wie Einsiedeleien sich selbst noch vor dem dörflichen Leben verstecken, ohne ganz von ihm ausgeschlossen zu sein. Dort ist die auch die Heimstatt der Tiere, die offensichtlich nicht in Massen gehalten werden und auch nicht, um sie zu verwerten. Kommunikation mit Tieren scheint hier groß geschrieben zu werden, sodaß diese einen eigenen Lebensraum neben dem Menschen erhalten, nahe, doch auch klar unterschieden. Je weiter wir uns vom Dorf entfernen, umso mehr geht die Kulturlandschaft in eine sanfte, an Wildnis gemahnende Natur über. Hier finden wir Wanderwege, aber auch Zonen die von Menschen gemieden werden. Die Stille eines spirituellen Ortes an den fernsten, verborgensten Punkten läßt uns fast vergessen, daß nur wenige Kilometer von hier ein Stück der globalen Metropole liegt. [/chunk28]

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4.2. Innehalten

Wir setzen uns hin, an einem solchen stillen und ruhigen Ort, und lassen Revue passieren, was wir gerade gesehen haben auf unserem ersten Rundgang in der Zukunft. Eigentlich hat uns ja nichts hier wirklich überrascht, keine fliegenden Untertassen und keine Antigravitation sind uns begegnet, keine Teleportation und keine Telekinese, keine Mutanten und keine humanoiden Roboter. Und doch war die Ansammlung bekannter Elemente in ihrer Dichte und in ihrer Vielfalt erstaunlich. Wir haben an einem Ort agrarische Elemente gesehen, wir haben kleine Produktionsanlagen gesehen, wir haben eine Dienstleistungs- und Wissenszone gesehen, und das alles in einer erstaunlichen räumlichen Verdichtung.

"Globale Dörfer" sind also eine Siedlungs- und Lebensweise die aus einer Synthese historisch dominanter menschlicher Existenzweisen entstanden ist. Vor allem hat sich die klare Unterscheidung der beiden Lebensbereiche Stadt und Land aufgelöst. Die Stadt wurde von einem räumlich abgegrenzten Gebiet zu einem Geflecht miteinander intensiv kommunizierender Knotenpunkte. Urbanität bedeutet die Teilhabe an dichten Kommunikationsvorgängen, die über diese Knotenpunkte vermittelt sind. Diese Knotenpunkte konnten offensichtlich auch dort entstehen und eine Funktion bekommen, wo keine Stadt im traditionellen Sinn war. "Globale Dörfer" im engeren Sinne sind jene Siedlungsformen, an denen die Knotenpunkte der unendlichen Stadt mit den Lebensmöglichkeiten der ländlichen Räume eine nachhaltige Symbiose eingehen. Es gab viele auslösenden Momente für eine solche Entwicklung und wir sind schon einigen davon begegnet. Sie scheinen gemeinsam zu haben, daß die Bewohner eines solchen Dorfes gerade aufgrund der fortgeschrittenen technischen Entwicklung das gesamte Spektrum der menschlichen Beziehung zur Natur wieder in ihren Alltag integrieren konnten. Hightech re-aktualisiert Lowtech. [/chunk29]

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Doch es ist auch umgekehrt: die Lowtech aktualisiert Hightech: wir werden von Beispielen hören, wo die Entstehung eines Globalen Dorfes von einer Bauerngenossenschaft ausging, die eines Tages beschloß, eine "Stadt anzupflanzen". Gemeinsam mit einem städtischen Bauträger und einem Kreditinstitut taten sie sich zusammen, schlossen Verträge, legten Rollen fest, begründeten eine Arbeitsteilung. Sie holen sich die Städter aufs Land - doch nicht temporär, wie weiland die Touristen, sondern als Neubürger und willkommene Ergänzung ihrer Gemeinde: genausoviele, wie die Gemeinde zu vertragen imstande sein würde. In dieser Kooperation und Arbeitsteilung legte die Genossenschaft die Grundlage für einen neuen Lebensraum. Es entstand der Energiebauer, der Hippotherapiebauer, der Wellnessbauer, der Gewebebauer, der Öl- und Kräuterbauer, eine Vielfalt landwirtschaftlicher Berufe und Aufgaben, die nur aufgrund eines gemeinsamen Gesamtkonzeptes zu realisieren war.

Doch warum sind die Städter in das globale Dorf gezogen? Warum haben sie die Bequemlichkeit und den Komfort der Stadt, ihre Erregungen und ihren Luxus hinter sich gelassen? Diese Fragen begleiten uns, während wir langsam zurück ins Dorf zurückmarschieren und beschließen, uns die Menschen in dieser Zukunftsgemeinschaft nun einmal genauer anzusehen. [/chunk30]

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4.3. beim Schuster

Am Eingang des Dorfes steht eine einladende Schusterwerkstatt. Wir wundern uns. Ist nicht das Handwerk ausgestorben in unserer Zeit bis auf das Kunsthandwerk? Haben nicht Fabriken und billige Massenproduktion die Regie übernommen? Ist das hier nicht ein Rückfall ins Mittelalter? Wir treten ein und geben uns zu erkennen als ein Besucher aus der Vergangenheit, und der Mann hinter der Werkbank geht auf unseren vorgeblichen Scherz ein. Er beginnt mit einem historischen Exkurs. Zunächst schilt er uns für unsere schlechte Meinung vom Mittelalter: Im Mittelalter war der Produzent, z.B. der Schuster mit seinem Produktionsprozess und seinem Abnehmer auf engem Raum, im Dorf oder in der mittelalterlichen Stadt eng verbunden. Das Rohmaterial, das Leder wuchs praktisch vor der Haustür immer wieder nach, die Transportwege waren kurz und die Transportmittel (Ochsenkarren, Pferdefuhrwerke etc.) einfach und sowohl ökologisch als auch energetisch ohne "Nebenwirkungen". Produziert wurde mit Low tech, optimal bedarfsorientiert und "maßgeschneidert". Produktwerbung war fast unnötig. Es wurde ja nicht gewinnorientiert sondern bedarfsorientiert produziert und die Qualität durch die unmittelbare Interaktion zwischen Kunde und Schuster dialoghaft gesichert und fast "zwangsläufig" verbessert. Der Schuster wußte genau, wo den Kunden der Schuh drückt. "In ihrer Zeit wurde doch das Schwarzbuch Kapitalismus von Robert Kurz veröffentlicht. Da hätten Sie doch nachlesen können, daß im Mittelalter die Menschen in vieler Hinsicht wohlgenährter, besser versorgt und ausgeruhter waren als in der darauffolgenden Neuzeit. [/chunk31]

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Erst die moderne Massenproduktion hat ihnen wieder einen bescheidenen Wohlstand gesichert. Vorher mußte man sie ja regelrecht vom Land vertreiben, mit Terror, Einhegungen und Rekrutierungen. Als der Laden aber dann wirklich zu laufen begann, im 19. Jahrhundert, lief das von alleine. Die Fabriken wurden produktiver und erzeugten massenhaft Konsumgüter. Die Menschen in den Städten wurden reicher, die ländlichen Regionen verarmten zusehends. Heimlich begannen auch die Dörfler sich in der Stadt einzudecken und die moralische Ökonomie der Dörfer zerbrach. Mein Großvater war auch Schuster, ich habe die Familiengeschichte studiert. Er hat lange durchgehalten, aber das Risiko wurde immer größer und der Ertrag immer geringer. Er wollte eine klare Trennung seiner Arbeitszeit und Freizeit. Er wollte frei sein von den Launen der Kunden und dem Auftragsrisiko. Also wurde er Industriearbeiter. Er wußte am Anfang des Monates schon was er am Ende des Monates in seiner Lohntüte nach Hause trug. Konnte sogar Schulden mit gutem Gewissen machen, konnte sich Dinge (Reisen, Genussmittel, Kleidung, Unterhaltung...) leisten, die ihm Selbstbewußtsein gaben, die ihn aus der Masse heraushoben. Er wollte sich auch nicht länger mehr der sozialen Kontrolle seines Dorfes unterwerfen. Er wollte ohne soziale Verpflichtungen gleichsam anonym konsumieren." [/chunk33]

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"Und was ist draus geworden? Er hat seinen Job verloren, erstens weil die Schuhe aus China billiger zu produzieren waren und zweitens weil die Automaten keine Qualifikation mehr verlangten. Er hat also gleichzeitig gegen die Chinesen und die Automaten gekämpft. Und so wie ihm ging es Millionen Menschen." Ja, diese Geschichte kennen wir, aber wie ist das heute, fragen wir.

"Naja," schmunzelt er. "ich bin eigentlich weder ein rein selbständiger Handwerker noch bin ich ein Angestellter. Ich bin Mitglied der Dorfgenossenschaft und zugleich repräsentiere ich die Schustergilde hier in Bitstadt. Ich mach die Schuhe auch nicht komplett selbst. Man könnte sagen: ich baue industrielle Halbfertigprodukte für den Endbenutzer zusammen. Zuschneiden, formen, verbinden: es gibt in dieser Werkstatt viele Maschinen dafür. Die sehen sie nicht, weil sie sind in den Boxen da drüben, die schirmen den Lärm und die Temperatur ab. Meine Werkbank ist eigentlich der Computer, aber ich lege durchaus gern mal Hand an, wenns um den letzten Schliff geht. Meine Tätigkeit ist mindestens genausoviel Kopfwerk wie Handwerk. Ich bin eigentlich der Mittler zwischen der Industrie und den Kunden. Ich glaub zu Ihrer Zeit gab's das schon in Sportgeschäften." [/chunk34]

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"Als Mitglied der Dorfgenossenschaft hab ich natürlich einen gewissen eingeschränkten Gebietsschutz. Und auch eine gewisse garantierte Mindestabnahme. Jeder Bewohner von Bitstadt, der nicht Mitgenossenschafter ist, zahlt ja im Jahr soundsoviel Miete. Und da sind eben auch Basisleistungen wie wahlweise ein freies paar Schuhe drinnen. Kennen Sie doch auch aus ihrer Zeit, das hat man im Tourismus erfunden, nannte sich "all inclusive Angebot". So sichert mir die Genossenschaft ein garantiertes Mindesteinkommen und der Rest ist mein Bier"...

"Ach ja", setzt er nach einer gewissen Denkpause fort. "Vielleicht sind ihnen noch zwei Dinge kein Begriff. Die Schustergilde, das ist ein weltweiter Verband, zu Ihrer Zeit gab's eigentlich nur die Linux - Programmierer. Mittlerweile hat sich rumgesprochen, daß es besser ist, wir tun unsere Qualifikation zusammen und tauschen unsere Entwürfe frei aus als daß wir alles teuer von Firmen kaufen, die sich geistiges Eigentum gesichert haben. Dadurch haben die Kleinen unglaublich an Qualität gewonnen! Sogar unsere Werkzeuge sind Open Source, die Baupläne werden ständig verbessert und überarbeitet, und die Firmen ,die die Maschinen bauen, haben keine Rechte an den Bauplänen. Das zweite daß sie vielleicht nicht wissen, ist daß ich achtzig Prozent meiner Rohstoffe vor Ort beziehe, aus den umliegenden 5 Dörfern. Wir haben wirklich einen tüchtigen Materialbroker hier in der Gegend." [/chunk35]

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"Materialbroker, was ist das?"

"Ach ja, das können Sie nicht wissen. Das gabs zu Ihrer Zeit noch nicht. Der Materialbroker ist wirklich ein neuer Beruf. Er ist sozusagen Einkäufer und Abfallverwerter in einem, aber nicht nur uns, die Schuster, sondern auch für viele andere im Dorf, für die Energiebauern, die Erd- und Wasserbauern, die Ausstatter, die Agroförster, die ernährungswirtschaftliche Kooperative.... Seine Hauptbeschäftigung besteht darin, die Zusammenhänge zwischen den Inputs und Outputs, zwischen den Abfällen und Rohmaterialien zu erkennen und zu steuern. Er sitzt im Informationszentrum, wo die Fäden der Dorfwirtschaft und des Dorflebens zusammenlaufen. Seine Tätigkeit wird als eine höchst verantwortungsvolle und mit langjährigem Studium und Praktika verbundene geschätzt, aber auch er lernt immer wieder dazu. Mit anderen Materialbrokern ist er auf ständiger Suche nach Modellen, wirkliche Kreislaufwirtschaften zustande zu bringen. Diese Stoffstrommodelle sind nach vielfältigen Kriterien geordnet in einem Repository zusammengefaßt, das wiederum in Form einer Open Source Bibliothek allen globalen Dörfern zur Verfügung steht. Damit ist sie der Kevin Kellyschen "Ideenbank der Natur" sehr eng verwandt." [/chunk37]

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Auf das Achselzucken hin, das ihm zur Antwort gegegeben wird, deutet er auf einen Spruch an der Wand. "Kevin Kelly kennen Sie nicht? Hat er zu Ihrer Zeit geschrieben, ist aber wohl für uns relevanter als zu seiner Zeit". Wir lesen:

"Je intensiver sich der Mensch bemüht, komplizierte mechanische Dinge zu bauen, umso mehr befragt er die Natur um Rat und Hilfe. Die Natur ist dabei wesentlich mehr als eine Genbank, die irgendwelche unentdeckten Pflanzenkuren für künftige Krankheiten enthält. Natürlich ist sie das auch. Aber die Natur ist auch eine "memetische Bank", eine Ideenfabrik. Lebensfähige post-industrielle Paradigmen sind in jedem Ameisenhaufen im Dschungel versteckt. Das milliardenfüßige Wesen aus Käfern und Kräutern und die ihnen nahestehenden indigenen Kulturen die von diesem Leben gelernt haben, sind schon deswegen schützenswert, weil sie noch viele verborgene Einsichten und postmoderne Metaphern enthalten. Wer eine Weide oder einen Regenwald zerstört vernichtet nicht nur Gene, er vernichtet einen Schatz zukünftiger Metaphern, Einsichten und Modelle für eine neobiologische Zivilisation". [/chunk38]

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"Ein schöner Spruch", sagt der Mann. "Wir leben und handeln danach. Bei uns im globalen Dorf gibt es ein Sprichwort: "wer beginnt alleine und mühsam zu arbeiten sollte vorher mit den Bäumen sprechen. Wer etwas erfinden will, sollte einen Waldspaziergang machen." Die Natur ist voller kleiner Helfer und Lehrmeister, die so gut wie jedes technologische Problem gelöst haben. Lange vor dem Menschen hat sie das Fliegen erfunden, das Tauchen, sie versetzt Berge, sie heilt, repariert, stellt wieder her. Sie verfügt über hervorragende Kommunikationssysteme, und über Systeme der Navigation und Orientierung. Aus Sonnenlicht baut sie Materie um und aus. Dabei hat sie die Dauerhaftigkeit von Strukturen über Milliarden von Jahren ebenso gewährleistet wie ständige Innovationen. Ihre Wirkungsgrade sind immens, der Materialverbrauch erstaunlich gering. Eigentlich wird in natürlichen Systemen nichts verbraucht sondern in zyklischen Prozessen oder offenen Kreisläufen umverteilt, umgeschichtet und neu kombiniert. Und diesem Prinzip gehen wir mit unserer Technologie nach. Seit einiger Zeit haben wir im Dorf einen Hanfbauern. Der Materialbroker hat vorher zum Thema Hanfverwertung und Fasergewinnung zusammengetragen. Dann erfuhr er von einer neuen computergesteuerten Maschine, die verschiedenste Gewebe, Textilien und Fasern aus Hanf herstellen kann. Durch verschiedene Zusätze war es möglich geworden, sogar lederähnliche Materialeigenschaften und Verarbeitungsmöglichkeiten für solche Hanfgewebe zu erzielen. Der Materialbroker hat eine Sendung der Herstellerfirma mit Materialproben erhalten und sie mir überreicht. Aber auch die Ausstatter haben Platten und Stoffrollen mit den neuen Geweben erhalten, die sich für Boden- und Wandgestaltung, für Isolierung und Oberflächendesign gleichermaßen zu eignen schienen. Keiner kann alleine eine Entscheidung treffen. Jeder von uns hat eine aktive Kompetenz, aber viele passive Kompetenzen, und nur wenn die sich zur Deckung bringen lassen stimmt die Qualität. So funktioniert das bei uns in Bitstadt mit der Produktion und mit der Ökologie." [/chunk39]

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4.4. Haus des Wissens

Wir verlassen den freundlichen Schuster, nicht ohne ihm eine letzte Frage zu stellen. Wir gestehen, eben erst in dieser Zeit angekommen zu sein und keine Ahnung zu haben, in welchem Wirtschaftssystem wir eigentlich leben. Auch in seiner Erzählung sei soviel bunt durcheinander gewürfelt worden, Marktwirtschaft, Lieferfirmen, Genossenschaft, Gilden, Open Source, die fast planwirtschaftliche Ausschreibung eines Hanfbauern, daß wir uns überhaupt nicht auskennen würden. "Ach ja, sagt er, sie kommen aus der Epoche der zentralen Marktwirtschaft. Lassen Sie sich ruhig noch ein wenig verwirren. Aber die Antwort wäre ganz einfach. Wir lösen jedes Problem mit der ihm am meisten entsprechenden Form, ohne ein vorgängiges Dogma zu haben. Wir lernen in der Schule, daß es schon zu Ihrer Zeit ein Wort dafür gab, Subsidiarität". [/chunk40]

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Wir verabschieden uns vom Schuster und machen uns auf den Weg ins Zentrum. Hier werden wir wohl mehr Antworten auf unsere Fragen kriegen. Auf dem "Haus des Wissens" steht in kleinen goldenen Lettern: "Wir finden die Antworten auf Ihre Fragen - gemeinsam". Die heutige Runde im Glasperlenspiel ist vorbei, wir haben die ungeteilte Aufmerksamkeit der...äh, entschuldigung, wir sind nicht von hier, wie ist Ihre Berufsbezeichnung? Die Dame am Schalter lächelt: "Ich bin regionaler Informationscoach. Was kann ich für Sie tun?" Gewitzt durch unsere erste Begegnung stellen wir die Frage: "Wir erstellen nämlich eine Arbeit darüber, wie ein Besucher aus dem Jahr 2003, aus dem Marketingzeitalter, die heutige Realität wahrnimmt. Wie würden Sie einem solchen Besucher das Haus des Wissens und Ihren Beruf erklären?" Statt einem historischen Exkurs hören wir eine überraschend simple Antwort: "Ich bin dazu hier, Besuchern zu helfen, die besten Antworten der Welt auf ihre Fragen zu finden". Jetzt wollen wir aber doch mehr wissen. Wir erfahren, daß die Idee der globalen Dörfer ihren Ausgangspunkt mit den Telehäusern genommen hat, einer Institution, die das Leben und Arbeiten im ländlichen Raum erleichtern sollte. Die Telehäuser seien aber gescheitert, weil sie sich nur auf die Technik konzentriert hätten. [/chunk41]

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Erst als man begann, die herkömlichen Büchereien in Innovations- und Medienzentren für nachhaltige Entwicklung auszubauen, sich mit der umfassenden Verbesserung des Lebens und der Zusammenarbeit in den Dörfern und Verbesserung der individuellen Lebenssituation zu beschäftigen, sei eine Wende eingetreten. Das Globale Dorf war im Bewußtsein da, bevor es in der Realität verwirklicht werden konnte. Es existierte als Chance -nicht im Sinn eines Masterplans, sondern eines allgemein plausiblen Bedürfnisses nach der Gestaltung eines Raumes, der sowohl Vertrautheit und Überschaubarkeit, als auch eine vielseitige Entfaltung von Erlebnissen, Eigenart, Begegnung möglich macht.. Doch der Euphorie der Entdeckung der unbegrenzten Möglichkeiten des Lokalen stand die Tatsache entgegen, daß die verschiedenen lokalen Akteure noch in verschiedenen Wertesystemen existieren und oft noch nicht die über Handlungsoptionen verfügten, um ihr lokales Potential auch tatsächlich realisieren zu können. [/chunk42]

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Das ernsthaftes Anerkennen, daß wir nicht genug wissen, um die wahrgenommenen Möglichkeiten zu realisieren, führte dazu, daß die herkömmlichen Bildungsinstitutionen radikal in Frage gestellt wurden. Es wurde erkannt, daß Modelle, die von vorneherein auf Konvivialität in einem gemeinsam zu gestaltenden Lebensraum aus sind, von höherer Komplexität sind als diejenigen, die sich in bürokratisch gelenkten Systemen abspielen, in dem gesetzmäßig die zentral vorgeschriebenen, offiziell anerkannten Inhalte und Vermittlungsmethoden vorherrschen.

Es war also ein neuer Typ von Bildungsinstitution gefragt, in dessen Zentrum die Fähigkeit steht, weniger Informationen in der vorgefertigten Form eines Lehrplanes zu vermitteln, sondern die über das omnipräsente Netz ohnehin allgemein zugänglichen und auch in den einzelnen Menschen in verschiedensten Formen vorhandenen Qualifikationen zu kombinieren und ihnen neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit aufzuzeigen. Dekonstruktion und Kombinatorik an Stelle von Lehrplänen war gefragt. [/chunk43]

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Diese Bildungsinstitution und dieser Bildungsprozeß stand vor einer großen Herausforderung, denn die Beteiligten an diesen Lernprozessen kamen nicht nur nicht aus einheitlichen kulturellen Hintergründen, sie waren auch zumeist durch eine Geschichte funktioneller Spezialisierungen und Hierarchisierungen gegangen: einheimische, seßhafte Landmenschen, zurückgekehrte und neu zuziehende Städter, Arbeiter und Intellektuelle, sie alle sprachen verschiedene Sprachen, obwohl sie sich mit den Zielen und den jeweiligen Besonderheiten und Werten des globalen Dorfs identifizierten. Es war zumeist gar nicht möglich, direkt auf das Ziel der Selbstorganisation und des Wissensgewinns zur Handhabung komplexer Kreislaufprozesse loszusteuern, vielmehr bedurfte es zunächst emotionaler Öffnung und der Schulung passiver Kompetenz.

Hier haken wir ein, denn wir haben das Wort schon vom Schuster gehört: Passive Kompetenz ist das die Fähigkeit, zur Problembewältigung auf die Kompetenzen und das Wissen anderer zurückzugreifen, sie dabei nicht zu überfordern, sie in ihren Zielen zu verstehen und die richtige Kooperationsmethode zu wählen. Haben wir das richtig verstanden?: [/chunk44]

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"Ja, aber das ist leichter gesagt und definiert als getan. Wir müssen behutsam vorgehen und die Menschen einander entdecken lassen, wie ein guter Gastgeber, der will daß sich seine Gäste bei der Party gut unterhalten. Das ist Teil unseres Berufes. Wir organisieren Bildung und Begegnung. Wir sind dann erfolgreich, wenn die Menschen miteinander ins Gespräch kommen, ohne daß wir uns groß einmischen müssen, aber wir begleiten diese Gespräche, die zum Austausch von Wissen, Werten und Tätigkeiten führen. Dann entsteht immer wieder eine Frage, die lokal nicht beantwortet worden ist oder scheinbar nicht werden kann, dann organisieren wir die Reise in das Netz und verdolmetschen die Sprache der Medien. Das hat zur angenehmen Nebenerscheinung, daß die Leute die im Haus der Beratung oft auf keinen grünen Zweig kommen und einander widersprechen, hier bei uns gemeinsam lernen und Lösungen finden."

Wir verstehen. Mit den neuen Modellen der Zusammenarbeit im globalen Dorf wächst auch das Bedürfnis nach neuen Berufen. Berufsbilder, die nicht nur die einzelne Funktion in einem arbeitsteiligen Organismus, sondern auch und in immer größerem Maße die Abstimmung, die Koordination zum Inhalt haben. Diese Berufe sind aber selbst untrennbar mit Lernen und Innovation verknüpft. [/chunk45]

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4.5. Die Allianz der globalen Dörfer

Wir sind noch immer im Haus des Wissens. Wir wissen schon einiges über das globale Dorf, über sein ökologisches Konzept, sein System der Berufe, der Produktion, wir wissen über den hohen Stellenwert der Bildung. Aber wie ist das mit den Alten, den Kranken, den Hilflosen, den Kindern? Sind wir in einem Vorstadtparadies für Manager gelandet, in einem etwas anderen Feriendorf, oder haben wir es wirklich mit einer Lösung zu tun, die auch denen etwas zu geben hat, die in unserer Gesellschaft unter den Rost fallen? Was ist mit den Informationsarmen, die zunehmend auch die wirklich Armen bildeten? Wir beschließen, dieser Frage nachzugehen. Im globalen Dorf gibt es keine Anzeichen von Armut. Wahrscheinlich sind wir in einem reichen Land. Also stellen wir die Frage nach der Entwicklung von Armut und Reichtum im Weltmaßstab.

Die Antwort versetzt uns wieder in die Vogelperspektive. Die InfoCoachin zeigt uns eine Weltkarte in verschiedenen Farben. Sie erklärt uns, daß es eine weltweite Allianz der globalen Dörfer gäbe, und demonstriert auf der Weltkarte die verschieden hohen Prozentsätze von Mitgliedsgemeinden. "Die Allianz der globalen Dörfer hat die Nachfolge der Vereinten Nationen angetreten, nachdem das System der Kommando- und Kontrollstrukturen zusammengebrochen ist" erklärt sie. Nationen waren im Grunde genommen territoriale Allianzen, die ihren Reichtum auf Kosten anderer zu steigern versuchten. "Es war wie ein sich ständig beschleunigendes Ringespiel: am Ende blieben einige wenige Siegernationen übrig, während der Rest in Konkurs ging. Der wahre Herrscher der Welt hieß Dollar oder Euro, das Kreditgeld der Siegernationen. Doch die Herrschaft war teuer erkauft: wo ein Konkurrent siegte, standen die anderen vor dem Nichts. Ganze Staaten machten bankrott, die einstmals blühende Gemeinwesen waren. Den Anfang machte Argentinien, dann folgten viele andere. [/chunk46]

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Also wuchs die Gefahr von Krieg und Terror, wurden ganze Weltregionen durch Verelendung wirtschaftlich unbrauchbar und unfruchtbar, wurden Unmengen des trotzdem immer noch vorhandenen Reichtums für Flugzeugträger und Eingreiftruppen vergeudet. Wer die anderen aus dem Feld schlagen wollte, mußte rücksichtsloser vorgehen gegen die langfristigen Anforderungen der Produktion. Man hatte damals das irre Sprichwort, daß die Schnellen die Langsamen fressen, ohne die tragische Wahrheit dieses Satzes zu begreifen. Anstatt die Schnellen zu bestrafen, wurden diese sogar noch für ihren Kanibalismus belohnt und bewundert!! Ein Teufelskreis, der erst durch die politische Mobilisierung der Dörfer ein Ende fand. Damals gründeten einige wenige Gemeinschaften aus allen fünf Kontinenten die Allianz, mit dem Ziel, die Basis der technischen Kooperation ständig zu erweitern. Globale Dörfer profitieren wechselseitig von ihrer Existenz, denn jedes Dorf erweitert die Wissens- und Entwicklerbasis für die gemeinsame technische Kooperation. Und sie nehmen einander nichts weg, denn sie gründen ihre Entwicklung auf den Kreislauf lokaler Ressourcen. So entstanden die ersten Friedensdörfer, sie gaben der Welt ein Beispiel, das immer mehr Nachahmer fand, und heute sind schon mehr als 30 Prozent der Weltbevölkerung in der Allianz. Natürlich haben wir noch ein hartes Stück Arbeit vor uns, aber ohne uns geht nichts mehr auf dieser Welt." In ihrer Stimme klang Stolz mit. "Wir haben Ernst gemacht mit der Parole von der "Nachhaltigen Entwicklung". [/chunk47]

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Das hieß auch, daß wir in unseren Koperationsbedingungen nicht nur Umweltstandards, sondern auch soziale Mindeststandards festgeschrieben haben. Wir geben nur jenen den vollen Zugang zu technischer Kooperation, die sich an unserem Programm beteiligen - denn wir haben auf der anderen Seite in vielen Fällen die Rollen übernommen, die der Sozialstaat nicht mehr zu spielen vermochte. Sie finden bei uns Mindestrentner, Behinderte, denen wir ein würdiges Leben zurückgegeben haben. Ghettos, jede Form der Institutionalisierung und Anerkennung von Armut müssen unter allen Umständen vermieden werden. Sie bringen erst die Mentalität der Hoffnungslosigkeit und des Zynismus hervor, in der Menschen ihrer Umgebung nichts mehr zurückgeben können und wollen. Sie können mir glauben, daß ich mit dieser Mentalität auch hier oft genug zu tun habe..." [/chunk48]

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"Aber diese Mühe lohnt sich für uns: in einem harten Kampf um das Erbe des Sozialstaats haben wir uns Land und Ressourcen angeeignet, durch Verhandlungen, Verträge und Abkommen. Einen Arbeitslosen auf einen Arbeitsmarkt zu schicken, der ihn nicht braucht, ist bodenloser Zynismus. Ihm ein Stück Land und Werkzeuge zur kollektiven Selbstversorgung zu geben ist etwas ganz anderes! Der erste Pionier, der diesen Weg erkannte, hieß Fritjof Bergman. Er hat mit seinem Konzept der "Neuen Arbeit" jenseits von Markt und Industrie die kollektive Selbstversorgung als Ausweg aus der Krise erfunden. Nicht die Mühe und Plackerei einer staatlich organisierten Arbeitsfront, sondern Selbstentfaltung mit dem Einsatz von Automation und Technologie. Wir haben gesehen, daß davon die Gesellschaft enorm profitiert. Wir haben aus dem Notunternehmen Subsistenz ein ständig wachsendes Element der planetaren Gesellschaft gemacht, das schrittweise - und so hoffen wir, friedlich - die alte Gesellschaftsordnung ablöst. Und dafür arbeiten wir auch aktiv: wir leisten internationale Hilfe und technische Assistenz gerade in den Weltgegenden, die von der Wirtschaft aufgegeben wurden. Wir haben ein Credo: jedes Dorf in Afrika ist ein möglicher Quell neuer Informationen, neuer Kreativität und unerwarteter Lösungen für Probleme, die uns alle betreffen können. Und es ist ein Außenposten der menschlichen Verantwortung für die Schönheit und Integrität dieses Planeten." [/chunk49]

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Beim Wort Außenposten haken wir ein: heißt das, daß die globalen Dörfer die Städte und Metropolen abgeschafft haben oder abschaffen wollen? Die Coachin lacht.

"Das wäre genauso, als ob sie in der Industriegesellschaft die Landwirtschaft abgeschafft hätten. Wir brauchen die Städte sehr wohl, nur nicht so viele davon - und vor allem nicht so große. Alle unsere Dörfer sind Teil einer großen Stadt. Aber wir wären niemals dorthin gekommen, wo wir heute sind, wenn nicht einige große Städte den Zug der Zeit erkannt und sich der Allianz der globalen Dörfer angeschlossen haben. Wissen Sie, wie wir diese Städte nennen? Wir nennen sie liebevoll "Mutterstädte"! Waren vorher die urbanen Konsumenten im Zentrum der Aufmerksamkeit, hatten sich diese Städte ständig in ihrer eigenen Traumwelt bespiegelt, so ist die Arbeit für und mit den globalen Dörfer für sie heute zum dominierenden Wirtschaftsfaktor geworden. Ich sage nicht, daß es nur Mutterstädte gibt: es gibt auch wirkliche Weltmetropolen, die unmittelbar globale Bedeutung beibehalten haben. Aber das sind wenige Ausnahmen, der Rest hat die Zeichen der Zeit erkennen müssen. Die Bevölkerung der Städte hat sich ein wenig reduziert, aber viele Menschen leben noch immer hier. Durch die neue Ausrichtung der Stadt auf die Versorgung eines weit größeren Einzugsgebiets ist die Stadt selbst zum Labor geworden; neue Technologien und Lösungen für die Verbesserung von Lebensräumen werden zuallererst hier ausprobiert, wo Universitäten, Produktionsstätten, Dokumentationszentren und große Vertriebsnetze sich zusammenballen. Cableliner und Solarmobile, ein automatisiertes Transportwesen ohne Stau und Streß, die Entstehung vieler eng benachbarter "urbaner Dörfer" aus den grauen Häusermeeren, mit wiederhergestellter Nähe von Arbeits- und Wohnort, all dies hat eine neue, dezentrale, fraktale Stadt geschaffen. [/chunk50]

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Es gibt kein Stadtzentrum im alten Sinn mehr, lediglich einen historischen Bezirk für Besucher, es gibt Nachbarschaften und Quartiere mit annähernd gleichen Möglichkeiten. Die Stadt ist in sich selbst ein Netzwerk von Dörfern geworden, zuerst chaotisch, dann bewußt gefördert, indem nach dem Wohnen, der Freizeit, den Arbeitsplätzen auch die Kulturstätten an den Stadtrand gewandert sind. Die Produktionsstätten sind nicht mehr dampfende und lärmende Industrien, denn der Materialeinsatz ist drastisch gesunken. Es werden eher intelligente Werkzeuge als Massenwaren hergestellt. Die Produktion vieler Artikel des täglichen Bedarfs ist in die globalen Dörfer gewandert. Die Stadt aber ist ein Zentrum der intellektuellen Produktion geblieben. Ihre Wissensbasis, ihre Spezialisten und ihre Problemlösungsfähigkeiten sind gefragter denn je. In der Stadt ist nach wie vor das Wissen zu Hause, universeller und umfassender denn je. Die alten Stadtbezirke haben sich Themen gesucht, sind Themendörfer geworden, ein Kulturbezirk lockt mit einem Museumsquartier, ein Wissensbezirk beherbergt einen Universitätscampus mit allen Spezialdisziplinen der Geisteswisssenschaften, ein Messegelände bringt ständig die verschiedensten aktuellen Entwicklungen aus allen Gebieten der gesellschaftlichen Produktion zusammen. Manche der urbanen Dörfer als Stadtrand haben sich ganz dem Mutterstadtthema verschrieben, es gibt aber auch die Viertel des Vergnügens und des mondänen Luxus. In einer gewissen Beziehung tut es uns allen gut, einmal im Leben in der Anonymität der Stadt unterzutauchen und alle menschlichen Möglichkeiten zu versuchen. [/chunk51]

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Wir sehen es als unbedingt wünschenswert an, daß junge Menschen eine Vielfalt von Möglichkeiten, Kontakten, Erfahrungen, Unterhaltung erfahren, aber auch die Chance sich in einem anonymen Umfeld zu bewegen, sich neu zu erfinden, zu beweisen, die eigenen Grenzen auszuloten, ohne einer sozialen und moralischen Kontrolle ausgesetzt zu sein. Und doch kann dies nicht das Ziel ihres Lebens sein, sondern ist die Basis für eine bewußte Entscheidung. Denn in ein Globales Dorf wird man nicht hineingeboren, man sucht es sich aus! Jedes Dorf ist anders, wir sind keine schicksalhaft der Scholle verbundenen Landidioten, sondern wir wählen eine Gemeinschaft samt ihren Werten, weil sie unseren Werten entsprechen. Dafür ist die Stadt, dieser schreckliche Ameisenhaufen, ein ganz brauchbares Durchgangsstadium. Aber alle Dinge die sie hier sehen, das Haus der Schönheit mit seinem Zugriff auf Kultur und Gestalten, das Haus der Werkzeuge, das Haus der Gesundheit: sie wären ebenfalls ohne Stadt nicht denkbar. Die großen Universitäten, Museen, Krankenhäuser - sie alle sind zu Netzwerkknoten geworden. Wenn hier bei uns im globalen Dorf ein Patient ein kleines Kameradragee zur Beobachtung von Magen und Darm schluckt, dann werden seine Daten im städtischen Diagnosezentrum von Spezialisten analysiert und mit genauen Empfehlungen an das dörfliche Therapienetz von Arzt und Wellnessbauern zurückgeschickt. In der landwirtschaftlichen Universität ist ein großes Satellitenlabor, das beständig Informationen über Reifezustand von Feldern, Schädlingsbefall etc. in landwirtschaftlichen Gebieten analysiert und den globalen Dörfern zur Verfügung stellt." [/chunk52]

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An diesem Punkt haken wir noch einmal ein: wie ist denn das mit der Machtverteilung? Muß nicht die Mutterstadt mit ihrem immensen Know-How und ihrem High Tech Vorsprung und ihrer demographischen Überlegenheit zwangsläufig die Führung übernehmen? Sind gerade dort nicht die wirtschaftlichen Interessen zu hause, die durch subtile Monopolisierung die Gleichgewichte zwischen den Menschen zerstört haben?

Sie nickt: "Das ist in der Tat eine reale Gefahr, und so manche Technologie die den globalen Dörfern angeboten wurden, als die Allianz in ihren Anfangszeiten war und noch keine eigenen Fabriken unterhielt, war in Wirklichkeit ein trojanisches Pferd, geschaffen um Abhängigkeit hervorzurufen. Aber das globale Dorf kann ja einerseits zwischen mehreren Mutterstädten wählen; außerdem und andererseits ist die Beziehung zwischen dem globalen Dorf und der Mutterstadt keine Einbahnstraße: es findet ein beständiger Austausch von Informationen zwischen Partnern statt, die einander benötigen und im Dialog stehen. Dorf und Stadt haben sich auf den Weg der Suche nach win-win-Situationen begeben. Es gibt in diesem Sinn auch keine "Städter" und "Dörfler", Menschen verbringen einen Teil ihres Lebens in der Stadt und einen Teil im Dorf. Sie kennen die Situation der anderen und wissen um deren spezifischen Bedürfnisse und pflegen miteinander soziale Kontakte. Die modernen Kommunikationstechnologien schaffen eine virtuelle Gemeinschaft, in der es keine Regierenden und keine Regierten gibt. Möglich ist nur, was sich im Konsens der Beteiligten durchsetzen läßt. [/chunk53]

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Die globalen Dörfer sind ein Produkt der Welle, die vorher schon die Blüte der Non Governmental Organisations hervorgebracht hat; oder die freie Software. Kommunikationstechnologien haben nicht nur die Möglichkeiten der Kontrolle vervielfacht, sondern auch die Möglichkeiten der Freiheit und der Kooperation; und mit ihrer Entwicklung verschärfte sich der Kampf zwischen den beiden Paradigmen. Große Softwarefirmen wollten die Macht, die ihnen das geistige Eigentum an Wissen und Kultur gab, zur Anhäufung des größten Reichtums- und Kontrollpotentials der Geschichte benutzen. Sie konnten Wahlkämpfe und Politiker und Medien mit ihrem Geld beeinflussen, Gesetze zum Schutz von Patenten und geistigem Eigentum durchsetzen, und dennoch formierte sich eine ebenso kraftvolle Gegenbewegung der freien Kooperation, der es erstmals in der Geschichte nicht mehr um Macht ging. Im Gegensatz zu allen früheren Revolutionären wollte sie keine Kommandohöhen besetzen, sondern forderten die freie Selbstentfaltung aller im Geiste der Kooperation und des Zusammenspiels" [/chunk55]

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So oder so ähnlich könnte also eine Bibliothekarin des einundzwanzigsten Jahrhunderts die Geschichte und die Entwicklung der globalen Dörfer darstellen. Wir könnten auf unserer Reise durch unser syntopisches Dorf noch viel Facetten entdecken. Wir könnten uns ansehen, wie dieser Geist des Zusammenspiels im Kleinen funktioniert, wie sich die globalen Dörfer nicht nur der kulturellen Erbschaft des Mittelalters, sondern auch der alter Stammeskulturen und ihrer Ratsversammlungen wieder versichert haben. Wir könnten uns die Vielfalt der Manifestationen und Lebensmodelle anschauen, die ihren kulturellen Reichtum ausmacht. Wir könnten uns ansehen, wie die Gemeinschaftswerke der Dörfer, der urbanen Regionen, der bioregionalen, nationalen und kontinentalen Netzwerke zu neuen und überraschenden Formen der Verflechtung führen. Wir könnten uns exotische Stadtpflanzen ansehen in diesem bunten planetaren Garten, wir könnten den Lebensweg eines Menschen in dieser verwirrenden Vielfalt verfolgen, wir könnten auf die Suche nach den Mängeln und Schattenseiten dieses planetaren Netzes gehen, und schließlich und letztendlich auch auf die Frage, wie die ganze Geschichte weitergeht - denn auch hier gibt es kein "Ende der Geschichte", sondern nur die Chance, daß die alte sich totläuft und etwas Neues gebiert. Wenn aber das was wir bisher gesehen haben als realen Möglichkeit und konsistentes System erscheint, dann könnten wir aber auch in die heutige Realität zurückkehren und an vielen Orten zugleich beginnen, die Geschichte ein wenig wahrer zu machen.

(Wien, 19.1.2003) [/chunk56]

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